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Dieses Thema hat 5 Antworten
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 Religion 2.0
claus Offline



Beiträge: 12

22.01.2009 14:42
Recht auf Illusionen ? Antworten
Als Wissenschaftler habe ich ein professionelles Interesse an der "Wahrheit".

Dabei mag mein Begriff von Wahrheit einem Philosophen recht naiv erscheinen: Ich verstehe darunter, wie vermutlich die meisten Physiker-Kollegen, die Eigenschaft eines Modelles der "Wirklichkeit", in sich widerspruchsfrei und ökonomisch (so einfach wie möglich), sowie natürlich mit den vorliegenden Experimenten kompatibel zu sein. Alle Aspekte der Entwicklung und Überprüfung dieser Modelle sind in der Wissenschaft offen für Kritik und ständige Verbesserung. Durch Konsens-Bildung innerhalb der Gemeinschaft der Wissenschaftler erhalten die Forschungs-Resultate "objektiven" Charakter.

Die objektive Wissenschaft und ihre praktische Umsetzung in der Technik, die ich für eine der größten Erfolgsgeschichten in der Evolution des Menschen halte, beruhen also im Kern auf dem methodischen Streben nach Wahrheit im obigen Sinne.

Es stellt sich aber die Frage, ob im subjektiven Bereich der Psyche einzelner Menschen ebenso ein unbedingtes Streben nach Wahrheit wünschenswert ist. Könnte es nicht sein, daß gewisse, objektive Befunde über die Natur des menschlichen Daseins (z.B. die Nichtigkeit des Planeten Erde im kosmischen Gesamtgeschehen, die neurobiologisch zweifelhafte Willensfreiheit, usw.) kein zufriedenes Leben mehr ermöglichen ? Hätten wir in diesem Falle nicht das "Recht", bewußt in selbstgeschaffenen Illusionen leben ? Oder führt jede mangelnde Übereinstimmung zwischen Modell und "Wirklichkeit" früher oder später zu noch größerem Leid ?

Diese Frage möchte zur Eröffnung dieses neuen Diskussions-Threads aufwerfen.
hans Offline



Beiträge: 9

25.01.2009 10:39
#2 RE: Recht auf Illusionen ? Antworten

Was soll an deinem Wahrheitsbegriff naiv sein? Widerspruchsfreiheit nach innen und aussen sowie Ökonomie halte ich für zwingende und objektive Voraussetzungen der Wahrheit. Die Widerspruchsfreiheit (innen und aussen) alleine wäre hinreichend für die Wahrheit, wenn alles bekannt wäre (dann wäre alles Wahrheit). Das Wissen um die Unwissenheit fordert den Ökonomieanspruch.
Die Offenheit für Verbesserung folgt aus Widerspruchsfreiheit und Ökonomieanspruch.
Die angesprochene Konsensbildung ist nach meiner Meinung überflüssig für die Definition und stellt einen Zirkelschluss dar, wie er insb. gezielt in Religion und Esoterik zur Immunisierung gegen Kritik eingesetzt wird.

Viele (alle?) Systeme zur Kompensation von zuviel Wahrheit im angesprochenen Sinn (Religion, Esoterik, Fanatismus) setzen objektiv falsche Grundannahmen in ein Regelwerk für Menschen um, das schließlich zu viel Leid (Unterdrückung, Kriege, Rassenhass) führt und nur einem kleinen Teil (wenn überhaupt) einen Harmonievorteil bringt. Ich halte genau das für den in der biblischen Geschichte von der Erbsünde zum Ausdruck kommenden Mechanismus. Obwohl sich vermutlich alle Beteiligten des Unsinns ihrer Annahmen bewusst sind (ohne sich das einzugestehen), wird dieses System wieder und wieder jeder neuen Generation übergestülpt. Ein nicht gesellschaftlicher, sondern individueller derartiger Wahrheitskompensator (Glaube eines Einzelnen) wird in der Medizin unter der Bezeichnung 'Wahn' geführt und führt nicht wirklich zur Harmonieverbesserung, weder für den Betroffenen, noch für dessen Umgebung.

Vermutung: Ein Recht auf Illusionen kann nur mit einem Zwang zu Illusionen erkauft werden.

Ich meine, dass langfristig der Schaden deutlich größer ist als der Nutzen. Das Streben nach Übereinstimmung von Modell und Wirklichkeit sollte oberste Bedeutung haben.

claus Offline



Beiträge: 12

25.01.2009 14:06
#3 RE: Recht auf Illusionen ? Antworten
> Die Widerspruchsfreiheit alleine wäre hinreichend für die Wahrheit, wenn alles bekannt wäre ?

Kann man denn davon ausgehen, daß es nur ein einziges widerspruchsfreies Super-Modell (ineinandergreifendes System von Einzelmodellen zu allen objektivierbaren Wirklichkeitsbereichen) gibt ? Da ist die Wissenschaftstheorie vermutlich anderer Meinung. Ich persönlich muß bei dieser Frage immer an die vielen gleichberechtigten Axiomensysteme der Mathematik denken, oder auch an die Tatsache, daß es für manche Gleichungen in dem einen Raum (z.B. ganze Zahlen) zwar nur eine einzige, in anderen Raümen (z.B. komplexe Zahlen) aber viele Lösungen geben mag.

> Das Wissen um die Unwissenheit fordert den Ökonomieanspruch.

Bitte um kurze Erläuterung.

> Die Offenheit für Verbesserung folgt aus Widerspruchsfreiheit und Ökonomieanspruch ?

OK. Wenn uns das perfekte Weltmodell einfach fix und fertig in die Hände fallen würde (gesetzt den Fall unsere kognitive Ausstattung wäre hinreichend um alles zu verstehen), bräuchten wir nicht weiter schrittweise unsere unvollkommenen Modelle verbessern. Aber so sind auf eine evolutionäre Weiterentwicklung unserer Theorien angewiesen. Während die Widerspruchsfreiheit ständig als Randbedingung erfüllt sein muß, gibt es eben auch für Theorien die mem-dynamischen Prozesse der Mutation, Bewertung, Selektion und fitness-abhängigen Verbreitung. So kann die Anzahl der erklärbaren Fakten und die Ökonomie immer weiter gesteigert werden. Und damit evolutionäre Optimierung funktionieren kann, ist Offenheit erforderlich.

> Die angesprochene Konsensbildung ist überflüssig für die Definition ?

Ist mir schon klar, daß Dir die Konsensbildung etwas zu sehr nach Subjektivität und Beliebigkeit riecht. Du hättest gerne nur Widerspruchsfreiheit und optimierte Ökonomie in der Definition, alles andere soll sich zwingend ergeben.

Ich sehe halt das praktische Problem, daß im Wissenschaftsbetrieb z.B. immer wieder Begriffe neu eingeführt werden (z.B. "Communities" in der Theorie komplexer Netzwerke). Solche Neubildungen gehen aus unscharfen Intuitionen hervor. Die endgültige Definition bildet sich aber erst heraus, indem der Begriff von vielen Wissenschaftlern leicht unterschiedlich verwendet wird und sich schließlich eine Verwendungsweise durchsetzt. Das meine ich mit Konsensbildung.

Man könnte es auch so sehen: Die Wissenschaftler bilden ein soziales Netzwerk, das als Ganzes wesentlich leistungsfähiger ist, als jeder Einzelne. Konsensbildung (analog Musterbildung) ist ein interessanter Prozeß der Selbstorganisation, der gute Theorien produziert.

> Konsensbildung stellt einen Zirkelschluss dar, der zur Immunisierung gegen Kritik eingesetzt wird.

Bitte auch hier eine kurze Erläuterung. Ich verstehe zwar Deinen nachfolgenden Absatz über die objektiv falschen Grundannahmen in der Religion und die unglaublich lange Lebensdauer solchen Unsinns. Ich würde aber gerne noch herausarbeiten, was den Unterschied zur Wissenschaft genau ausmacht. Warum hat es die Kirche nie geschaft, sich von den falschen Annahmen zu befreien ? Die Wissenschaft lernt doch ständig dazu und fühlt sich auch noch großartig, wenn sie alte Theorien durch sexy neue ersetzen kann !
hans Offline



Beiträge: 9

02.02.2009 23:51
#4 RE: Recht auf Illusionen ? Antworten

Hat jemand Beispiele für inkompatible Axiomensysteme? Gibt es Gleichungen, die bei Erweitern des Definitionsbereich nicht mehr, sondern andere oder weniger Lösungen haben? Obwohl ich zu ja tendiere, habe ich kein Beispiel parat. Mir fällt höchstens ein, den Definitionsvereich explizit in die Konstruktion einzubeziehen, aber solche Konstrukte sind hier erst mal nicht gemeint.
Ein Beispiel für immer wieder fälschlicherweise als inkompatibel zitierte Axiomensysteme sind sphärische und ebene Geometrie, wobei die ebene eigentlich ein Spezialfall der sphärischen ist und die Anzahl der Lösungen positiv mit der Größe des Definitionsbereichs korreliert ist.

hans Offline



Beiträge: 9

28.03.2009 10:09
#5 RE: Recht auf Illusionen ? Antworten

> Das Wissen um die Unwissenheit fordert den Ökonomieanspruch.

Bitte um kurze Erläuterung.

Wenn ich mich recht erinnere, war das so gemeint:
In der Anfangsphase der Wissensbildung blühen die Theorien, die die Fragen mehr oder weniger gut beantworten, mit unterschiedlichem Gehalt an unbelegten Hilfshypothesen. Der Ökonomieanspruch, d.h. ein Schnitt mit Occams Messer, wo auch immer in dieser Phase ausgeführt, trennt sehr rigoros. Je mehr wir wissen, desto feiner werden die Unterschiede der noch bestehenden Theorien, der Ökonomieanspruch variiert dann nur noch Nuancen.
Der Einsatz des Ökonomieanspruchs ist umso wirkungsvoller und notwendiger, je unwissender wir sind. Bei sehr großem Wissensstand geht der Ökonomieanspruch schließlich im Rauschen unter, verschiedene Theorien laufen dann z.B. noch als 'Interpretation' oder 'Auslegung' statt als konkurrierende Theorie, die unbewiesenen Hilfshypothesen haben dann ähnliche Qualität und Quantität.

hans Offline



Beiträge: 9

28.03.2009 10:57
#6 RE: Recht auf Illusionen ? Antworten

> Konsensbildung stellt einen Zirkelschluss dar, der zur Immunisierung gegen Kritik eingesetzt wird.

Hier spricht die große Enttäuschung über Konsensbildung von (meist auf diesem Gebiet völlig inkompetenten) Gruppierungen aus mir, insbesondere z.B. über den Konsens in Homöopathie & Religion, der v.a. von gesellschaftlich hochstehenden Persönlichkeiten (Professoren, Politiker, Ärzte, religiöse Würdenträger) getragen und daher vom Volk übernommen wird. Natürlich handelt es sich im Gegensatz zum echten Konsens um einen sog. Binnenkonsens einer mehr oder weniger scharf umgrenzten Gruppierung, die Unterschiede zwischen beiden sind aber nur graduell und verschwinden mit zunehmender Größe der vertretenden Gruppierungen und mit zunehmender Unschärfe der Gruppenumgrenzung. In Diskussionen mit Anhängern von Glaubenssystemen wird der Konsens immer wieder als Universalwaffe benutzt, um selbst die abstruseten Thesen mit einer unsäglichen Arroganz nach aussen zu verteten.
Aber Du hast schon recht, eine vernünftige und kontrollierte Konsensbildung ist erforderlich zur Begriffsbildung in den Wissenschaften. Allerdings ist auch die Wissenschaft nicht davor gefeit, Unsinn per Konsens anzuerkennen, die Wissenschaftsgeschichte ist voll von Beispielen. Im Gegensatz zum Glauben setzt sich aber in der Wissenschaft langfristig die Vernunft durch.

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