Sie sind vermutlich noch nicht im Forum angemeldet - Klicken Sie hier um sich kostenlos anzumelden  
Sie können sich hier anmelden
Dieses Thema hat 0 Antworten
und wurde 233 mal aufgerufen
 Religion 2.0
claus Offline



Beiträge: 12

02.03.2009 10:08
Ein fiktives Interview über Religion Antworten
X.Y:

Herr M., sind sie Atheist ?

C.M.:

Spontan neige ich dazu, einfach ja zu sagen. Aber man muß genau aufpassen, wie die Begriffe heute verwendet werden. Wie oft bei solchen eher philosophischen Fragen ist die Sprache eine endlose Quelle von Mißverständnissen.

Ich habe im Laufe der Jahre mein privates Verständnis von Religion entwickelt, wobei ich u.a. stark von der Wissenschaft und vom Buddhismus beeinflußt wurde. Dabei haben sich meine persönlichen Assoziationen zu (und Interpretationen von) gewissen religiösen Schlüsselbegriffen langsam verschoben. Und nun bin ich mir oft nicht mehr ganz sicher über die "offizielle" Bedeutung dieser Begriffe.

Aber gut, ein Atheist ist doch im engeren Sinns jemand, der die Existenz Gottes bezweifelt. In diesem Fall gehöre ich sicherlich zu dieser Gruppe. Und schon gehen die Detailfragen los: Denn was soll das heute schon noch bedeuten, "Gott" ?

X.Y:

Naja, Christen verstehen unter Gott ein persönliches Wesen mit übernatürlichen Fähigkeiten, das ewig existiert, die Welt erschaffen hat, an der Lebensführung von uns Menschen interessiert ist...

C.M.:

Diese Vorstellung erscheint mir so absurd, kindisch und peinlich, daß ich eigentlich gar nicht weiter darüber reden will. Mir tun solche Menschen schrecklich leid. Offensichtlich haben sie es nicht geschafft, sich aus der Angst-Falle einer anerzogenen Kinder-Religion zu befreien und selbständig Denken zu lernen. Man sollte solchen Personen kostenlose psychologische Hilfe anbieten.

Allerdings gibt es neben dem naiven Theismus ja noch raffiniertere Varianten, von denen ich mich nicht ganz so abgestoßen fühle.

Insbesondere den Panthesimus, dem ja angeblich auch Einstein zugetan gewesen sein soll. Die Idee, das "Göttliche" in den ganz normalen naturgesetzlichen Abläufen und Erscheinungen des Universums zu sehen, hat auf ihre Anhänger sicherlich einen positiven Einfluß. Es muß großartig sein, wenn man allen Dingen mit Achtung und Ehrfurcht begegnen kann.

Ich kann das aber nicht - nicht ohne gezielte Übung. Ich finde überhaupt, der Panthesimus spendet keinen Trost und bieten auch sonst keine konkrete Lebenshilfe.

X.Y.:

Muß Religion Trost spenden ?

C.M.:

Unbedingt. Ich glaube, dies ist die ursprüngliche Triebfeder und Daseinsberechtigung der Religionen: Wir sind leidensfähige Wesen mit (zumindest subjektiver) Entscheidungsfreiheit. Und wir sehnen uns schlicht nach dauerhafter Minderung des Leids und nach "endgültigen" Entscheidungshilfen. Diese Funktionen sollten Religionen idealerweise erfüllen.

X.Y.: "Entscheidungshilfen" meint hier so etwas wie den "Sinn des Lebens" ?

C.M.:

Das ist auch wieder so ein verfänglicher Begriff ! Ich bin der Meinung, daß diese scheinbar so wichtige Frage nach dem Sinn des Lebens einfach ein Ausdruck von Unlust ist.

X.Y.:

Wie bitte ?

C.M.:

Ja, Unlust ! Solange wir uns wohlfühlen und z.B. ganz in einer Tätigkeit versunken sind - heute nennt man das ja gerne den "Flow"-Zustand - stellt sich niemals die SdL-Frage. Nur wenn wir in ein neues psychisches "Tief" geraten, die Bindungen an die Bezüge des Hier und Jetzt vorübergehend verlieren, erscheint das Leben plötzlich sinnlos.

In solchen unbefriedigenden Situationen versuchen sich manche Menschen zu behelfen, indem sie sich etwas kaufen, irgendein Objekt der Begierde. Sie denken: "Wenn ich nur dieses Ding erst habe, wird es mir besser gehen". Natürlich wird das neue Ding aber sehr schnell langweilig und die nächste Krise steht bevor.

Philosophischere Naturen sehnen sich stattdessen nach einem ultimativen Unlust-Hemmer, dem sogenannten Sinn des Lebens. Aber ich fürchte, damit verhält es sich ähnlich wie mit den materiellen Objekten: Sie werden leicht langweilig und verlieren an Glanz.

Ich jedenfalls fühle mich in einem Universum ohne festgelegten Sinn viel wohler. Offene Freiheit, viele Möglichkeiten...

X.Y.:

Dann haben Sie also keine Religion nötig ?

C.M.:

Oh, doch ! Zwar kann ich mit theistischen Religionen nichts anfangen, aber ich habe dringenden Bedarf an dauerhafter Minderung des Leids.

X.Y.:

Könnten nicht Wissenschaft und Technik diese Funktionen erfüllen ?

C.M.:

Eine verführerische Frage an einen Wissenschaftler ! Aber ich fürchte, die heute bekannten Naturwissenschaften und Ingenieurs-Techniken können diese Funktionen alleine nicht leisten.

Unsere Zufriedenheit hängt ja von zwei Faktoren ab: Einmal die Beschaffenheit unserer Lebens-Umwelt und zum anderen die Art und Weise, wie unsere Psyche die Sinnes-Eindrücke von dieser Umwelt verarbeitet. Was den Zustand der Umwelt angeht, haben wir heute in der Tat durch Technik wesentlich größere Einflußmöglichkeiten als früher.

Aber dummerweise hat unser auf Optimierung getrimmtes Gehirn die Eigenschaft, sich sehr schnell an objektiv verbesserte Lebensumstände zu gewöhnen. Die werden einfach zum neuen Standard und es kommt wieder Unzufriedenheit auf und der Wunsch nach weiterer Verbesserung der Situation. Aufgrund dieser tief verwurzelten Gier können wir trotz aller Technik keine dauerhafte Zufriedenheit erlangen - wir fallen immer wieder in einen Zustand des Leidens zurück.

Und auch bei der persönlichen Entscheidungsfindung hat die Wissenschaft ihre Probleme. So kann man zwar in bestimmten, wohldefinierten Entscheidungs-Situationen mithilfe mathematischer Methoden optimale Lösungen finden. Aber die Art von Entscheidungen, die langfristig unser Wohlbefinden beeinflussen, sind von ganz anderer Art ...

X.Y.:

Meinen Sie damit jetzt politische Entscheidungen ?

C.M.:

Die sicher auch. Aber ich glaube, daß die für unser persönliches Glück besonders relevanten Entscheidungen weitgehend unbewußt ablaufen, und zwar auf einer ganz kurzen Zeitskala von vielleicht Zehntelsekunden.

Unser Gehirn muß laufend entscheiden, wo unsere Augen als nächstes hinschauen, wie wir uns bewegen, welchen Gedanken wir nachhängen, wie wir die aktuellen Sinneseindrücke interpretieren sollen, wie wir etwas kommunizieren, usw.. Im Laufe der Zeit graben sich so in unserem Gehirn bestimmte wiederkehrende Muster ein. Diese Muster - also letztlich unser Charakter, unsere persönliche Note, unser Stil - bilden die Grundlage für unser Glück oder Unglück. Sie bestimmen auch zu einem großem Teil unser objektives "Schicksal". Und die meisten Menschen haben so gut wie keine bewußte Kontrolle über diese Mikro-Entscheidungen.

X.Y.:

Wäre das nicht eine Aufgabe der Psychologie, hier Methoden der Einflußnahme anzubieten ?

C.M.:

Das wäre in der Tat sehr wünschenswert. Und es gibt ja wirklich Methoden wie autogenes Training oder NLP, die aus der Psychologie kommen und in diese Richtung zielen.

Aber nach meiner Meinung ist die Königs-Disziplin auf dem Gebiet der psychischen Mikrokontrolle der Buddhismus.

Wenn man alles unnötige Brimborium abzieht, mit dem im Laufe der Jahrhunderte leider auch der Buddhismus beladen wurde, reduziert er sich nach meiner Meinung genau auf eine systematische Selbst-Therapie mit dem Ziel, den mikroskopischen Fluß unserer Psychodynamik so zu steuern, daß langfristig eine weniger leidvolle Lebensweise herauskommt.

X.Y.:

Dann sind sie also überzeugter Buddhist ?

C.M.:

Wenn ich mich überhaupt mit irgendeiner "Religion" anfreunden kann, dann mit dieser. Ich möchte hier nur ein paar sympathische Punkte nennen, die den Buddhismus (BD) insbesondere gegenüber den theistischen Religionen auszeichnen:

* Der BD braucht keinen Gott.

* Er interessiert sich auch nicht besonders für den Ursprung der Welt, sondern will einfach nur pragmatisch das Leid in der heutigen Welt verringern.

* Sein Begründer war ein ganz normaler Mensch, kein "Heiliger".

* Im BD wurde von anfang an Wert darauf gelegt, daß die Schüler die Lehrinhalte kritisch diskutieren, sie praktisch ausprobieren und sie wirklich mit ihrem eigenen Verstand und Gefühl durchdringen. Es wird also die Wahrheit der Aussagen und Methoden nicht einfach behauptet und durch ein Angst-System aufgezwungen, sondern die Wahrheiten werden immer wieder frisch nachgeprüft und gegebenenfalls korrigiert - so wie die Aussagen der Natur-Wissenschaften.

* Der BD sah die Welt - schon lange vor der modernen Wissenschaft - als kausales Netzwerk von Prozessen. Es gibt demnach keine beständigen "Dinge", da diese Dinge in Wirklichkeit auch nur Prozesse sind, die aufhören, sobald ihre Existenz-Bedingungen nicht mehr gegeben sind. Insbesondere bestreitet der BD daher die Existenz eines dauerhaften "Selbst" bzw. einer "Seele".

* Die Meditations- und Achtsamkeits-Methoden des BDs greifen näher an der Wurzel des menschlichen Leidens an, als irgendeine andere Heilslehre. Sie wirken bis auf die Mikro-Psychodynamik. Gleichzeitig werden aber auch die eher "makroskopischen" Bereiche kontrolliert: Rechte Lebensführung, rechtes Sprechen, usw.

* Außer der möglichst weitgehenden Überwindung des Leidens für alle leidensfähigen Lebewesen werden aber keine Einschränkungen gemacht, wie sich die Menschheit in der Zukunft gefälligst zu entwickeln hat. Offene Weite.

FORTSETZUNG FOLGT.
 Sprung  
Complexity Bookmarks
Xobor Forum Software von Xobor | Forum, Fotos, Chat und mehr mit Xobor
Datenschutz